Gesetzgebung: BayBO-Novelle - Weitreichende Änderungen der Bayerischen Bauordnung (BayBO) geplant – Teil 1 (Abstandsflächenrecht)
Die Bayerische Staatsregierung hat sich ein hohes Ziel gesetzt: Bauen soll einfacher, schneller, günstiger, flächensparender und nachhaltiger werden. Zu diesem Zweck hat das Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr am 9. Dezember 2019 einen „Gesetzesentwurf zur Vereinfachung baurechtlicher Regelungen und zur Beschleunigung sowie Förderung des Wohnungsbaus“ vorgelegt. Die groß angelegte Novelle sieht nicht nur Veränderungen im bauaufsichtlichen Verfahren vor. Reformiert werden soll auch das Abstandsflächenrecht. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Modifikationen im Abstandsflächenrecht und will die Auswirkungen des Gesetzesvorschlags für den Bauherrn, den Nachbarn und die Kommunen aufzeigen.
(Ein folgender zweiter Teil wird die verfahrensrechtlichen Änderungen der BayBO untersuchen.)
1. Bisherige Rechtslage in Bayern
Das Abstandsflächenrecht ist ein Kernbestandteil des Bauordnungsrechts. Es enthält klare Vorgaben darüber, wie weit Gebäude voneinander entfernt sein müssen, damit eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung in den Gebäuden gewährleistet wird und es zu möglichst geringen Beeinträchtigungen des sozialen Wohnfriedens kommt.
Bisher sieht Art. 6 Abs. 5 S. 1 BayBO vor, dass vor den Außenwänden von Gebäuden grundsätzlich eine Fläche von 1 H von der Bebauung freizuhalten ist. Das Maß „H“ ist eine Bestimmungsgröße für die Tiefe der Abstandsfläche und setzt sich aus verschiedenen Parametern zusammen. Einzubeziehen ist die Wandhöhe eines Gebäudes, also der Abstand zwischen der Geländeoberfläche und dem Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut bzw. dem oberen Abschluss der Wand, Art. 6 Abs. 4 S. 2 BayBO. Zusätzlich ist auf der Traufseite eines Gebäudes die Höhe des Dachs mit einem Drittel in das Maß „H“ einzurechnen, sofern das Dach eine Neigung von mehr als 45 Grad hat. Hat das Dach eine Neigung von mehr als 70 Grad, ist seine Höhe sogar vollständig zu berücksichtigen, Art. 6 Abs. 4 S. 3 BayBO. Auf der Giebelseite wird die Höhe der Giebelfläche mit einem Drittel berücksichtigt, wenn das Dach eine Neigung von bis zu 70 Grad aufweist. Bei einer stärkeren Dachneigung ist die Höhe vollständig zu erfassen, Art. 6 Abs. 4 S. 4 BayBO.
Die „1 H“-Regel gilt bislang in sämtlichen Gebietstypen mit Ausnahme von Kerngebieten und festgesetzten urbanen Gebieten. Hier genügt eine Abstandsfläche von 0,50 H. In Gewerbe- und Industriegebieten ist eine Abstandsfläche von 0,25 H ausreichend, Art. 6 Abs. 5 S. 2 BayBO. Stets einzuhalten ist bei allen Gebietstypen ein Mindestabstand von jeweils 3 m.
Erleichterungen von den geltenden Abstandsflächenregelungen bietet das sog. „16 Meter-Privileg“ des Art. 6 Abs. 6 S. 1 BayBO. Es ermöglicht einem Bauherrn, die Abstandsfläche an bis zu zwei Außenwänden eines freistehenden Gebäudes, die nicht länger als 16 m sein dürfen, auf die Hälfte der grundsätzlich vorgegebenen Abstandsflächentiefe zu reduzieren. Stets einzuhalten ist aber der Mindestabstand von 3 m.
2. Was soll sich ändern?
Die Abstandsflächenregelungen sollen sich in wesentlichen Punkten ändern.
a.Verkürzung der notwendigen Abstandsflächen
Bemerkenswert ist der grundsätzliche Plan der Staatsregierung, die Tiefe der Abstandsflächen deutlich zu verkürzen. Um ein dichteres und flächensparendes Bauen zu ermöglichen, soll nach Art. 6 Abs. 5 S. 1 BayBO n.F. künftig statt 1 H nur mehr eine Abstandsfläche von 0,4 H nötig sein, und zwar in allen Gebieten mit Ausnahme von Gewerbe- und Industriegebieten. Hier soll sogar eine Abstandsfläche von 0,2 H genügen. Keine spezielle Regelung enthält der Entwurf für Kerngebiete und urbane Gebiete. Für diese soll die 0,4 H-Regelung gleichermaßen gelten. Weiterhin erforderlich bleibt aber ein Mindestabstand von jeweils 3 m. Mit der Reduzierung der Tiefe der Abstandsflächen will der Gesetzgeber die BayBO an die von der Bauministerkonferenz herausgegebene Musterbauordnung angleichen. Diese sieht im Grundsatz ebenfalls eine 0,4 H-Regelung vor.
b. Neue Berechnung des Maßes von Abstandsflächen
Modifiziert werden soll weiter die Berechnungsmethode zur Bestimmung von „H“. Wie bisher ist die Wandhöhe eines Gebäudes in die Ermittlung von „H“ einzubeziehen, Art. 6 Abs. 4 S. 1 BayBO. Zusätzlich ist auf der Traufseite die Höhe des Dachs vollständig zu berücksichtigen, wenn die Dachneigung 70 Grad übersteigt. Bei einer geringeren Dachneigung ist die Höhe des Dachs stets zu einem Drittel zu berücksichtigen, Art. 6 Abs. 4 S. 3 BayBO n.F. Das hat zur Folge, dass entgegen der bisherigen Rechtslage auch bei Dächern mit einer Neigung von bis zu 45 Grad eine Anrechnung erfolgt.
Auf der Giebelseite erfolgt künftig keine Anrechnung der Höhe der Giebelfläche mehr. Stattdessen ist künftig die gesamte Wand, einschließlich der Giebelfläche der Maßstab für die Tiefe der Abstandsfläche. Im Gegensatz zur jetzigen Rechtslage ist dabei unerheblich, welchen Winkel die Dachneigung aufweist. Die neue Bestimmung hat zur Folge, dass die Abstandsfläche vor der Giebelseite eines Gebäudes nicht mehr notwendigerweise rechteckig sein muss, sondern in ihrer Form von der Gestalt der Giebelseite abhängt. Die beiden Formen sind indes nicht deckungsgleich. Die Abstandsfläche ist vielmehr als „gestauchtes“ Abbild der Giebelseite vorstellbar, da insoweit der Faktor von 0,4 (bzw. 0,2 im Gewerbe- und Industriegebiet) zum Ansatz zu bringen ist.
Die veränderte Berechnungsformel führt dazu, dass sich das Maß „H“ sowohl auf der Trauf- als auch auf der Giebelseite eines Gebäudes regelmäßig erhöhen wird. Dadurch wirkt der Gesetzesvorschlag jedenfalls in gewissem Maße der deutlichen Reduzierung der Abstandsflächentiefe entgegen.
Mit der neuen Bestimmung von „H“ findet ebenfalls eine Angleichung an die Musterbauordnung statt.
c. Wegfall des 16 Meter-Privilegs
Im Zuge der Neuregelung soll das „16 Meter-Privileg“ entfallen. Eine weitere Verkürzung der ohnehin schon deutlich verringerten Abstandsflächentiefe findet dann nicht mehr statt. Das ist konsequent, denn eine Reduzierung von Abstandsflächen auf 0,2 H (also die Hälfte von 0,4 H) ist jedenfalls außerhalb von Gewerbe- und Industriegebieten mit den erforderlichen Sozialabständen nicht vereinbar.
d. Sonderregelung für Städte mit mehr als 250.000 Einwohner
Eine Sonderregelung enthält der Gesetzesvorschlag für Gemeinden mit mehr als 250.000 Einwohnern, namentlich für die Städte München, Nürnberg und Augsburg. Hier soll die bisherige Abstandsflächenregelung dem Grunde nach erhalten bleiben. Damit eine Verdichtung der ohnehin bereits stark besiedelten Ballungsräume nur mehr maßvoll erfolgen kann, soll ein Bauherr künftig weiter eine Abstandsfläche von 1 H einhalten müssen, Art. 6 Abs. 5a S. 1 BayBO n.F. Bestimmt werden soll das Maß „H“ aber nach der neuen Methode. Faktisch werden damit die Anforderungen an Abstandsflächen in den drei größten bayerischen Städten sogar höher. Weiter anwendbar soll in den Großstädten jedoch das bisherige „16 Meter-Privileg“ gem. Art. 6 Abs. 5a S. 2 BayBO n.F. sein.
Ob die Regelung tatsächlich eine weitere Verdichtung in den Großstädten aufhalten wird, bleibt abzuwarten. Anders als in ländlichen Regionen ist es in den Großstädten geradezu ein städtebauliches Kennzeichen, dass dort eine enge Bebauung gegeben ist und die Abstände zwischen den Gebäuden regelmäßig sehr gering sind. In der Praxis ist die dichte Bebauung der Großstädte der maßgebliche Grund für die Bauaufsichtsbehörden, um nach Art. 6 Abs. 1 S. 4 i.V.m. Art. 63 Abs. 1 S. 1 BayBO bei Bauvorhaben Abweichungen vom gesetzlichen Abstandsflächengebot zuzulassen. Aus rechtspolitischen Gründen ist das auch zu begrüßen. Denn die Verkürzung von Abstandsflächen trägt gerade dort zur Schaffung von Wohnraum bei, wo die Wohnungsnot am größten ist. Insgesamt erscheint es jedoch nicht konsequent, wenn der bayerische Gesetzgeber trotz des Wohnungsmangels in den Ballungsräumen mit mehr als 250.000 Einwohnern die Nachverdichtung in den Großstädten bewusst erschweren will.
e. Kommunalisierung des Abstandsflächenrechts
Mit der Novellierung der BayBO soll eine stärkere „Kommunalisierung“ des Bauordnungsrechts einhergehen. Die Gemeinden sollen die Möglichkeit erhalten, künftig stärker durch städtebauliche Satzungen und Satzungen nach Art. 81 BayBO Angelegenheiten des Bauordnungsrechts zu regeln. Das macht sich auch im Abstandsflächenrecht bemerkbar. Die Gemeinden sollen die nötige Abstandsflächentiefe von 0,4 H erhöhen können, um das Ortsbild im Gemeindegebiet oder in Teilen davon zu erhalten oder um für eine Verbesserung oder Erhaltung der Wohnqualität zu sorgen, vgl. Art. 81 Abs. 1 Nr. 7 a) BayBO n.F. Ihnen kommt damit eine besondere Rolle für den Schutz des städtebaulichen Charakters in den Gemeinden zu.
In Städten mit mehr als 250.000 Einwohnern sollen die Städte durch Satzungen – wie bisher – eine Unterschreitung der Abstandsflächentiefe auf bis zu 0,4 H zulassen können, vgl. Art. 81 Abs. 1 Nr. 7 b) BayBO n.F. Auch dadurch kann in den Großstädten eine weitere Verdichtung erreicht werden.
3. Auswirkungen der Rechtsänderungen für die Praxis
Die Auswirkungen der Novelle für den Bauherrn, den Nachbarn und die Kommunen sind unterschiedlich.
a. Auswirkungen für den Bauherrn
Bauherrn dürfte die Neuregelung im Abstandsflächenrecht freuen. Ihnen soll es künftig möglich sein, Grundstücke in stärkerem Maß zu bebauen als bisher. Gebäude können entweder näher an die Grenze heranrücken oder höher gebaut werden als bislang möglich. Dadurch entsteht Potenzial für die Schaffung neuen Wohnraums.
Anders ist dies in den Großstädten München, Nürnberg und Augsburg. Hier will die Staatsregierung keine Erleichterungen für die Schaffung von Wohnraum vorsehen, obwohl dort die Wohnungsnot besonders hoch ist. Bauherrn sind daher nach wie vor auf das „16 Meter-Privileg“ oder auf die Zulassung von Abweichungen durch die Baubehörde angewiesen. Es wäre wünschenswert, wenn im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch eine Vereinheitlichung des künftigen Abstandsflächenrechts erfolgt und auch in den Großstädten eine Abstandsfläche von 0,4 H gelten würde.
b. Auswirkungen für den Nachbarn
Nachbarn dürften häufig wenig Grund zur Freude über die geplante Neuregelung haben. Zwar sind es Bewohner von Ballungsräumen meist gewöhnt, auf dichtem Raum zusammenzuleben, weswegen sich hier eine Verringerung der notwendigen Tiefe von Abstandsflächen etwa in Bezug auf den sozialen Wohnfrieden am wenigstens bemerkbar machen würde. Doch wie gezeigt wurde, soll die erforderliche Abstandsflächentiefe in den Großstädten München, Nürnberg und Augsburg nicht reduziert werden.
Eigentümer, deren Grundstücke außerhalb der Stadtzentren liegen, müssen dagegen damit rechnen, dass die Bebauung auf den Nachbargrundstücken dichter an die Grundstücksgrenzen heranrückt. Dadurch geraten auch die Kernziele des Abstandsflächenrechts weiter in den Hintergrund. Zugegeben: für die Belichtung, Belüftung, Besonnung und den sozialen Wohnfrieden ist eine zusammenrückende Bebauung wenig förderlich. Hatte bislang eine 10 Meter hohe Wand eines Nachbargebäudes beispielsweise bei 1 H insgesamt 10 Meter Abstand zum Nachbargrundstück einzuhalten, so wird der gesetzliche Mindestabstand nun auf 4 Meter verkürzt.
c. Auswirkungen für die Kommunen
Kommunen haben es nach wie vor in der Hand, das Abstandsflächenrecht im Gemeindegebiet mitzugestalten. Ihre Rolle wandelt sich im Zuge der Novelle aber. War es Gemeinden bislang möglich, durch Satzung eine Reduzierung der gesetzlichen Abstandsflächenerfordernisse zu bestimmen und damit eine engere Bebauung im Gemeindegebiet zuzulassen, sollen sie künftig für eine Erhaltung des Ortsbildes und der Wohnqualität sorgen, indem sie bei Bedarf die gesetzlichen Mindestvorgaben im Abstandsflächenrecht erhöhen. Auf die Kommunen dürfte damit ein erheblicher Rechtfertigungs- und Planungsaufwand zukommen.
4. Fazit
Die geplante Novellierung der Bayerischen Bauordnung führt zu tiefgreifenden Änderungen am bisherigen Abstandsflächenrecht. Festzuhalten ist jedoch, dass alle übrigen Bundesländer bereits vergleichbare Abstandsflächenregelungen eingeführt haben, die sich an der Musterbauordnung und der darin vorgesehenen Abstandsflächentiefe von 0,4 H orientieren. Für das laufende bayerische Gesetzgebungsverfahren wäre wünschenswert, wenn sich der Gesetzgeber noch einmal der Abstandsflächenregelung in Großstädten widmet und hier ebenfalls eine Abstandsfläche von 0,4 H vorgibt.