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RECHTSPRECHUNG – Überraschende Entscheidung aus Erfurt: Keine Vergütungspflicht des Arbeitgebers bei staatlich verfügtem Lockdown in der Pandemie

3. November 2021 von Ludwig Schleder

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) sorgt mit seiner Entscheidung vom 13.10.2021 (5 AZR 211/21) für eine echte Überraschung: Muss ein Arbeitgeber seinen Betrieb aufgrund eines staatlich verfügten Lockdowns zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorübergehend schließen, trägt er nicht das Risiko des Arbeitsausfalls (Betriebsrisiko). Der Arbeitgeber ist dann auch nicht verpflichtet, Arbeitnehmern, die von der vorübergehenden Schließung betroffen sind, Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu zahlen.

Ausgangspunkt der Entscheidung war folgender: Die Beklagte betreibt den Verkauf von Nähmaschinen und Zubehör in mehreren Filialen. Im April 2020 musste sie ihr Ladengeschäft in Bremen aufgrund staatlicher/behördlicher Allgemeinverfügung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorübergehend schließen. Die klagende Arbeitnehmerin, die als geringfügig Beschäftigte gegen eine monatliche Vergütung von € 432,00 im Verkauf tätig war, konnte deshalb vom Arbeitgeber nicht beschäftigt werden und erhielt vom Arbeitgeber auch keine Vergütung. Die Arbeitnehmerin klagte daraufhin ihre Vergütung für den Monat April 2020 unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs ein und begründete dies damit, dass infolge der behördlich angeordneten vorübergehenden Betriebsschließung ein Fall des vom Arbeitgeber zu tragenden Betriebsrisikos (Risiko des Arbeitsausfalls) vorliege. Dagegen machte der Arbeitgeber geltend, dass die staatlicherseits angeordnete vorübergehende Schließung des Ladengeschäfts nicht das Betriebsrisiko, sondern das allgemeine Lebensrisiko betreffe, das nicht von ihr beherrschbar sei.

Während beide Vorinstanzen der Klage stattgaben und den Arbeitgeber zur Zahlung der Vergütung verurteilten, verneinte das Bundesarbeitsgericht einen Vergütungsanspruch der Klägerin. Das BAG begründete dies damit, dass aufgrund der staatlich/behördlich angeordneten Betriebsschließung zum Schutz der Bevölkerung vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen sich nicht das in einem Betrieb angelegte Betriebsrisiko realisiere. Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung sei vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt treffenden Gefahrenlage. Weiter folgert das BAG, dass es die Sache des Staates sei, für einen Ausgleich der durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile der betroffenen Arbeitnehmer zu sorgen. Soweit ein solcher Ausgleich – wie zum Teil durch den erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld – für geringfügig Beschäftigte nicht gewährleistet sei, könne aus einem Fehlen nachgelagerter Ansprüche keine arbeitsrechtliche Zahlungspflicht des Arbeitgebers hergeleitet werden.

Das BAG begründet seine Entscheidung im Kern auch damit, dass aufgrund der staatlich angeordneten vorübergehenden Betriebsschließung nicht nur dem Arbeitgeber die Annahme der Leistung unmöglich war, sondern es auch der Arbeitnehmerin aufgrund der staatlich angeordneten vorübergehenden Betriebsschließung unmöglich wurde, ihre Arbeitsleistung zu erbringen (und daher kein Annahmeverzug gegeben sei).

Fazit und Ausblick

Die Entscheidung des BAG ist insoweit überraschend, weil bisher in Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertreten wurde, dass der Arbeitgeber unter dem Aspekt des Betriebsrisikos auch das Risiko einer pandemiebedingten behördlichen Schließung zu tragen habe (so wohl auch die der Klage stattgebenden Entscheidungen der Vorinstanzen). Die Entscheidung des BAG ist aber nachvollziehbar und vor allem auch überzeugend. Denn es wäre nicht sachgerecht, dem Arbeitgeber das Vergütungsrisiko aufzubürden, wenn er wegen einer staatlich angeordneten Schließung, die dem Schutz der Allgemeinheit vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen dient (und deren Ursache nicht in seiner Sphäre liegt), seine Arbeitnehmer nicht beschäftigen kann.

Die rechtlichen Auswirkungen der Entscheidung des BAG sind derzeit noch nicht in allen Bereichen absehbar. Zunächst betrifft das Urteil geringfügig Beschäftigte und wohl auch Werkstudenten, ggf. bei dieser Arbeitnehmergruppe auch die Frage, ob Rückforderungsansprüche gegen geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer bestehen können, wenn der Arbeitgeber (irrtümlich) Annahmeverzugslohn zahlte.

Für sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer ist die praktische Relevanz wohl eher begrenzt, da in den Fällen des Lockdowns die Möglichkeit der Kurzarbeit bestand, von der in der Regel auch Gebrauch gemacht wurde. Bei vergleichbaren künftigen Fällen könnte die Entscheidung ggf. aber auch Vergütungsansprüche nicht geringfügig Beschäftigter treffen, etwa wenn kein Ausweichen auf Kurzarbeit und damit die Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld möglich oder gewollt ist.